Verletzung
Alle
zwanzig oder dreißig Jahre erwacht die Erde der Region Maule aus ihrer
versteinerten Mittagsruhe und erschüttert uns mit solcher Gewalt, dass
sie Denkmäler, Sitten und Sprachen zerrüttet.
Wir
verlieren sogar unsere Intimsphäre. Aus den Trümmern wühlt man die
Liebesbriefe und die Sepiafotos, die unsere Wesensart bewahren, unsere
durch Jahrhunderte, Jahrtausende angeeignete Identität, in der das
Einheimische sich der überwältigenden Modernität verweigert hat.
Was
wird passieren, jetzt da ein Erdbeben der Stärke 8,8 uns wieder den
Unbilden der Witterung überlassen hat? Wird man Talca wieder aufbauen,
das kitschige, mit seinen Pariser, Londoner Allüren? Oder versuchen wir
uns auf eigene Faust an den bloßen Elementen des Wassers und des Staubs
festzuhalten, gewohnheitsmäßige Bauern?
Dieses so treffend „Wunde“ genannte grafisch-dichterische Werk von
Fulvio Fernández und Gabriel Rodríguez stellt uns zurück an den Anfang
einer neuen Herausforderung: wieder fliegen mit gebrochenen Flügeln…
Vor
unseren Augen entfalten sich Bilder, die nach Angst riechen und nach
dieser tödlichen Schutzlosigkeit, die nur eine reife und weise Linse
zutiefst erfassen kann, und die Texte se encabalgan in erschütternden
und klaren Versen, vielleicht geschrieben auf den Knien, als noch die
Nachbeben die Heimatscholle erschütterten.
Kurz
und gut, die Kunst der Region Maule erlangt in dieser interessanten
Arbeit größere Qualität, indem sie dem menschlichen Schmerz Würde
verleiht. Glückwunsch.
Talca in Memoriam
Der Donnerschlag
Gottes
schlug in der Nacht
und Talca die
Selbstgefällige
wurde zum Staub
Die Gedärme der
altmodischen Sesseln
traten aus zum Tanzen
unter der Märzsonne
die alten Straßen
verstummten
niedergeschlagen
Die Steine
zersprangen
ihr Duft verschwand
aus den verarmten
Aristokraten
zwischen den
Bordellen verloren
eines schlechten
Todes
Hoffnungslos
ungeschützt
nackt
unbewohnt
Der Claro machte sich
klein
weinerlich
die Königin der Zehn
Claudia die
unzerstörbare
saß auf dem Platz
Und verlangte
von der noch warmen
Erde
ein neues Kostüm
von Halbwasser und
Lehm
Ich traue nach
das Licht der
gefallenen Türen
die Luft der
ausgestorbenen Salons
den Rauch der
beerdigten Cafes
den Flug der
vergangenen Bildnisse
den Gesang der
Einwohner
Talca die mächtige
Tochter des Donnerschlags
die Hörige
die Hure
murmelt ihr
Mönchsrosenkranz
singend über die
zerstörten Kirchen
rumgefallen
Taubenlos
zerlumpt
Es fiel die Verteufelte
die Betriebsame
die Gesangshebamme
Paris und London
weigerten den
Tagesanbruch
auf die Auferstehung
wartend
der Todesstädten
ENDE DER WELT
Ich werde nicht
herabsteigen in die Erde
um eine Handvoll zu
streiten
von stinkenden
Knochen
die die erde
hervorbrachte
aus der Tiefe ihrer
Gedärme
und hat sie
ausgestellt
auf dem Platz
tänzelnd
schnekenhaft
mit Kinnschlag
lachend
über unsere Denkmäler
Gefallene
Verletzte
zur Scheiße geworden
mit einen einzigen
bocken der Pachamama
Ende der Welt
schrie ein nackter
Kerl
auf dem Platz
seiner Unterhose in
der Hand haltend
Bereut mal ihr
Schlappschwänze
und ihr verschiedene
Huren!
Die Armen führen
ihren unendlichen Krieg weiter
gegen die Läuse
die Bücher und Töpfe
fallen
der Plunder bricht
Fenster springen
die Türen weigern
ihren Dienst
die Alarmanlagen
explodieren
meine Tochter weint
leise
am Ufer des Meeres
das über die Berge
schwapt
die Constitucion
nackend vor Armut
des leidenden Landes
unter Lehm geschützt
Vier Bretter
navigieren den Maule
rausschmeißer
wütender
irrer
Die Villas aus
Schlamm
legen ihren
verblichenen Wuschelkopf frei
ihre Küchennässe
reißen die Fischerhütte
auseinander
umziellos zu reisen
ohne Datum
namenlos
wie viele andere
ohne Gedächtnis
gesichtslos
ohne Kreuz
zukunftslos
Der Staub und der
Lärm
griffen die Alkoven
an
das Geschrei endete
mit dem Knall der
Balken
so konnten wir die
Zeit schwängern
Chanco wurde von
Wasser und Fischen überflutet
Schiffsbrüchige
zwischen Schreibtisch
und Papiere
Es nutzt nichts die
WIFI
der Twister
die Waffenindustrie
der Spiegel
das Festival
das
Zweihundertjährige Jubileum
die TLC
die Gebäude stürtzten
ab
die Paradigmen
die Kostüme aus
Steinpappe auch
Eine matte Haut
zitterte
vom Liebhabern
träumend
verschwunden
die verkrampfte
Brüste greiffend
frevelhaft
alles bewegt sich
bewegt sich
Ein verschwommenes
Schweigen
taucht aus dem Maule
auf
es dämmert der Moergen
ich durchquere den Regenfluß
mit Froschaugen
Talca die
selbstgefällige
Existiert nicht mehr
DER TANZ DER DACHZIEGEL
San Javier de Loncomilla
Tanzt
Einen Dachziegelkarneval
Die Öfen aus warmem
Brot
Fliegen durch die
Lüfte
Die Kirchen neigen
sich
Kummervoll
Die Pfosten beten
An ihren
Rosenkranzkabeln hängend
Die Präsidentin
Wirft das nutzlose
Handy
Und fliegt zum Kern der Tragödie
SCHUTT
Frau Juanita
Beherbergt einen
Kinderschwarm
Unter ihren riesen
Brüsten
Die zittern
In Concepcion die
siuticos
Das Lumpen
Die Enteigneten
Verlieren die Scham
Und plündern die
Malls
Wellen von
Bösewichten
In Autos
Greifen nach
Waschmaschinen und Mikrowellen
Ich denke an meine
Kindheitshaus
Eine Staubwelle
verbirgt die Tränen
Während ich meine
Gleitschuhe suche
Zwischen den Schutt
REISE
Ein Reptil
Die Autobahn
Hebt rauf und runter
Schüttelt sich heftig
Brummt
Macht die Beinen
breit
Stampft
Taucht runter
Langsam
Sehr langsam
In die Gedärme der Erde |